Thomas de Maizière, ehemaliger Kanzleramtschef, Bundesinnen- und Verteidigungsminister, beschrieb in seinem Vortrag einen fundamentalen Wandel, den Deutschland durchlaufen müsse. Angesichts sich verändernder globaler Machtkonstellationen stehe Deutschland vor erheblichen Herausforderungen. Bisherige Gewissheiten – wie die Abwesenheit von Krieg, stetiges Wirtschafts-wachstum, keine Mangelerscheinungen und ein funktionierender Staat – seien erschüttert. Dies zeige sich etwa darin, dass 70% der Bevölkerung den Staat als überfordert wahrnehmen. Die Corona-Pandemie hat diese Wahrnehmung noch verstärkt, als selbst grundlegende Versorgungsgüter wie Hustensaft für Kinder knapp wurden, ein bisher undenkbares Szenario in der deutschen Überflussgesellschaft.
De Maizière betonte die wachsende Bedeutung der Außen- und Sicherheitspolitik. Dabei kollidiere die traditionell pazifistische Grundhaltung mit sicherheits-politischen Notwendigkeiten. Diese Spannung zeige sich besonders in früheren Debatten wie "Bomben statt Bildung" oder heute, wenn der Bundeskanzler betont, Sozialstaat und Sicherheit dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Für die Zukunft sieht de Maizière große finanzielle Herausforderungen: Allein für die Bundeswehr müssen nach Auslaufen des Sondervermögens zusätzlich 30 Milliarden Euro jährlich aus dem laufenden Haushalt finanziert werden. Der Staat, so de Maizière, wird nicht mehr alle großen Lebensrisiken abdecken können. Steuersenkungen seien unrealistisch – es sei ein Ammenmärchen, dass diese automatisch zu mehr Wachstum führten. Und die zentrale Frage der "Zeitenwende" sei letztlich: "Wer ist bereit, unser Land zu verteidigen?"
Zudem sei eine umfassende Staatsreform unumgänglich, besonders in den Bereichen Digitalisierung, Föderalismus und Krisenbewältigung. De Maizière plädiert für einen nationalen Sicherheitsrat und verbesserten Katastrophenschutz. Auch müsse die Bevölkerung lernen, mit mehr Unsicherheit zu leben – sei es bezüglich Trump, China/Taiwan oder dem Klimawandel. Die vermeintliche Gewissheit der vergangenen Jahrzehnte sei möglicherweise historisch eine Ausnahmezeit gewesen. Positiv bei alldem: „Die Bereitschaft in der Bevölkerung für grundlegende Reformen ist aufgrund der offensichtlichen Defizite in der staatlichen Handlungsfähigkeit gewachsen.“
Interview mit Prof. Dr. Thomas de Maizière
Prof. Dr. Thomas de Maizière beschreibt im Interview, welche konkreten Schritte Deutschland jetzt in der Außenpolitik angehen sollte; und was sich im Sinne einer Dynamisierung unseres Staatswesens und unserer Wirtschaft grundlegend ändern muss.