Jean-Claude Juncker nahm in seiner Rede eine Standortbestimmung für Europa vor – und die ist herausfordernd. Die Welt von gestern, sagte Juncker, gibt es seit Obama nicht mehr. Er war für America First und setzte die amerikanischen Interessen ganz nach oben auf seine diplomatische Agenda. Dann hat Trump dasselbe getan. Und Biden tut es auch. Auf der anderen Seite China, ein wichtiger Handelspartner, aber auch systemischer Wettbewerber und Rivale. Europa ist dem Land in den vergangenen Jahrzehnten laut Jucker mit erstaunlicher Naivität begegnet. „Jetzt sind die Chinesen überall. Wir sitzen auf den Zuschauerrängen.“
Seine Forderung deshalb: „Wenn wir nicht handeln, werden wir behandelt.“ Daran allerdings fehlt es nach Junckers Analyse überall. Beispiel Außenpolitik: Noch immer gilt hier das Einstimmigkeitsprinzip. Das schwächt Europas Einfluss in der Welt. Beispiel Euro: Es ist ein Unding, sagt Juncker, dass Flugzeuge innerhalb Europas in Dollar abgerechnet werden und nicht in Euro. Beispiel Handel: Die EU hat Handelsverträge mit 72 Staaten der Welt, aber es braucht mehr. Immerhin 40 Millionen Arbeitsplätze in Europa hängen von den internationalen Handelsbeziehungen ab. Beispiel Verteidigung: Es gibt 30 Helikoptertypen in Europa, in den USA gibt es einen einzigen.
Zuletzt das Beispiel Digitalisierung, mit Seitenhieb auf Deutschland: 2017 wurde hier ein Online-Zugangsgesetzt für hunderte staatliche Dienstleistungen beschlossen. Ganze 16 dieser Projekte sind bisher umgesetzt. „Wenn wir so langsam bleiben, werden wir diesen Wettlauf verlieren.“ Und er hat auch einen Vorschlag: Die 750 Mrd. Euro des EU-Wiederaufbauplans sollten für Zukunftsprojekte eingesetzt werden, inklusive Digitalisierung. Juncker: „Italien macht das gerade vor. Statt uns über die Italiener lustig zu machen, sollten wir besser schauen, was sie gut machen.“
Interview mit Jean-Claude Juncker
Jean-Claude Juncker im Inteview über den Zustand der EU, die Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit der EU-Mitglieder und die Verteilung des gesunden Menschenverstands in der Politik.